Sperrung für Autoverkehr sorgt für Unmut
Ein einstürzender Keller in der heutigen Carl Häberlin-Straße brachte 1932 noch einmal den großen Wyker Stadtbrand von 1857 in Erinnerung. Als eines der wenigen Gebäude hatte der alte Lehmbau das vernichtende Inferno überstanden, in dessen Folge ein Teil des alten Wyk neu aufgebaut werden musste. Dabei entstand auch die sogenannte „Neue Straße“, die heute den Namen des bekannten Wyker Arztes Häberlin trägt und von der Mittelstraße auf sein Haus am Sandwall zuläuft.
Im alten Wyk vor 1857 gab es nur wenige Straßen, dafür aber umso mehr kleine Wege und Gänge zwischen den Häusern hindurch. Manche sprechen noch heute von einem Wyker Gängeviertel, in dem es viele versteckte Ecken, kleine Gärten, Höfe und Durchgänge gab. Eine Ahnung davon, wie es einst war, vermitteln noch kleine Höfe sehr alter Häuser, die nicht selten zu nicht viel mehr als dem Abstellen eines Fahrrads reichen. Andere sind größer, bieten eine kleine Gartenfläche, Platz für ein paar Stühle und verfügen manchmal auch noch über eine der früher zu vielen Häusern gehörenden Wasserpumpen.
So gehörte ein kleiner, windgeschützter Hof über mehr als hundert Jahre zum Haus in der Mittelstraße 31, in dem einst der K. u. K. Hofschneidermeister Ernst Grauel seiner Arbeit nachging. Zu seinen Kunden zählte über viele Jahre ein österreichischer Erzherzog, der äußerst zufrieden mit seiner Arbeit war und ihn mit diesem Ehrentitel bedachte.
Zu der Zeit war schon fast ein halbes Jahrhundert vergangen, als die einstige „Linie“ und heutige Mittelstraße nach dem zweiten Wyker Stadtbrand von 1869 im Zuge der Neubebauung begradigt wurde und einige Gänge den Grundstücken zugeschlagen oder überbaut wurden. Geblieben sind bis heute der „Buschemannsgang“, benannt nach dem Gefängnis, in dem die Buschemänner einsaßen und der zum Teil zur Süderstraße gehört, die er mit der Mittelstraße verbindet. Eine solche schnelle Abkürzung zwischen Häusern und Gärten hindurch ist auch der ein Stückchen weiter in Richtung Sandwall liegende „Stinkbüddelsgang“, in dem einst ein Mann Felle, Knochen u. a. verarbeitete und so für den entsprechenden Geruch bzw. Gestank sorgte.
Auf dem Platz schräg gegenüber der Mittelstraße 31, wo heute die Stadtsäule von der Wyker Geschichte erzählt, stand einmal das kleine Haus von „Line Kieck“, die eigentlich Caroline Hansen hieß. Aber nicht wegen dieses guten Standorts zum Kiecken hatte sie ihren Ökelnamen erhalten, sondern durch den Augenfehler ihres Vaters. Nach ihrem Tod wurde das Haus auf Betreiben einiger ansässiger Geschäftsleute abgerissen, um einen besseren Zugang zu ihren Schaufenstern zu ermöglichen. In der Wyker Gartenstraße 10 wurde es wieder aufgebaut und steht bis heute dort.
Zu den Geschäftsleuten gehörte Heinrich Boysens (1864-1944), der in seiner Entenfabrik (Carl Häberlin-Straße 20) auch ein Möbelgeschäft mit Ausstellungsfenstern betrieb. Bei ihm wurden die Fänge aus den Föhrer Vogelkojen verarbeitet und bis in die Reichshauptstadt Berlin und sogar nach Amerika verschickt, wo sie auf die Tische der Auswanderer ein Stückchen Heimat brachten. Auf den Luxuslinern gehörten „Föhrer Krickenten“ zu den besonderen Leckerbissen, und es gibt die Vermutung, dass sogar einige Dosen mit der „Titanic“ untergingen.
Dem Besitzer der zu seiner Zeit einzigen, schräg gegenüber am Rosenbeet liegenden Drogerie der Insel, Edmund Kohl (1872-1942), gehörte eines der ersten Autos auf Föhr. Und was für eines! Auf dem einzigen vorderen Rad befand sich der Motor. Der offene Sitzplatz konnte auf den zwei hinteren Rädern des Dreirads bestiegen werden. Mit einer langen Lenkstange steuerte Edmund Kohl seine „Cyclonette“ durch die Wyker Straßen und stellte sie abends in einer dem Hühnerstall angebauten Garage ab.
Die Modelle, der Komfort und die Schnelligkeit änderten sich im Laufe der Zeit, eines aber blieb: der Autoverkehr in der Mittelstraße. Und dann das! Seit es Autos gab, wurde die Mittelstraße im Jahr 1973 zum ersten Mal für den motorisierten Verkehr gesperrt. Drei Jahre später rissen Bagger die Asphaltdecke auf, und die Klinkersteine des Fußwegs wurde aufgenommen. Man begann beim Glockenturm und arbeitete sich Schritt für Schritt weiter vor Richtung Sandwall, der wie die Große Straße zur Fußgängerzone wurde. Damit verschwanden auch die im Februar 1968 aufgestellten Parkuhren – zwanzig in der Großen Straße, fünfzehn in der Mittelstraße. Sie sollten Dauerparker vertreiben, damit über die Saison auch die einkaufenden Kurgäste eine Parklücke finden konnten. Zu den Parkuhren, die für eine halbe Stunde zehn Pfennig, also einen Groschen, verlangten, heißt es: „Das Ordnungsamt empfiehlt allen Kraftfahrern, sich mit dieser Neuerung vertraut zu machen, da ab Montag ‚das Auge des Gesetzes‘ auf die Einhaltung der Neuregelung achten wird.“ Das sofortige Be- und Entladen war allerdings auch weiterhin gebührenfrei erlaubt, wobei die Betonung auf „sofort“ lag.
Manche Einheimische maulten über die Sperrung der Mittelstraße für den Autoverkehr, andere waren laut dagegen. Sie fürchteten größere Kundeneinbußen und brachten auch sonst noch so allerlei Bedenken vor. Die neue Fußgängerzone aber war beschlossene Sache und sollte die neue, fußgängerfreundliche Zeit nach Wyk bringen, das mit mehr innerstädtischer Ruhe und Gelegenheit zum Bummeln, Verweilen und „Leute gucken“ so einigen Orten voraus war. Und zum Dank, dass Bürgermeister Peter Schlotfeld sich von den manchmal störrischen Einheimischen nicht hatte beirren lassen, nannten sie ihn mit Hinweis auf den neuen Straßenbelag von nun an „Platten-Peter“.
Text und Fotos: Karin de la Roi-Frey