Der Mittelpunkt des Badelebens

Beim Besuch des Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein, Uwe Barschel (1944-1987), anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Wyker Dampfschiffs-Reederei (WDR) im Jahr 1985 konnten sich manche alte Wykerinnen und Wyker noch lebhaft daran erinnern: Passagiere, die mit der seit 1895 fahrenden Dampflokomotive von Niebüll nach Dagebüll reisten, stiegen dort auf die „Nordfriesland“, „Föhr et Dagebüll“, und den Dampfer „Stephan“. Mit gewaltigen, schwarzen Dampfwolken und lauten Tutsignalen machten sie auf sich aufmerksam. Sie legten nicht wie einst nur dreimal wöchentlich an der damals so genannten Wyker Dampferbrücke an, sondern mehrmals täglich.

Das mit dem Anlegen war allerdings manchmal so eine Sache, denn erst wenn der Kapitän die Flagge vom Vormast holen ließ, stand die Dampferbrücke als Anlegeplatz fest. Allerdings hatten alle mit dem inzwischen ausgebauten Hafen gerechnet. Und „nu ging de Rennerie los, henn na de Damperbrüch. Am schlimmsten weer dat för uns Matthias Clausen von de Güterschuppen, de musst mit sien grote Handwag sehn, dat he henn kem, denn Matthies mußte ja ok dee Dampers fastmaken. Ok unse Postlüd mussten mit ern Paketwagen dor sein, alles ging in Schwiensgalopp.“

Neuartige Dampfschiffe bringen Veränderungen

Die Mittelbrücke, damals Dampferbrücke genannt, verdankt ihren Bau dem Umstand, dass der Wyker Hafen in der Mitte des 19. Jahrhunderts für das Anlegen von Dampfern nicht geeignet war. Als nun eine Husumer Reederei die Gäste des seit 1819 bestehenden Seebads Wyk aber mit einem der neuartigen Dampfschiffe nach Föhr bringen wollte, wurde der Wyker Rathmann Sievert Broder Volquardsen (1820-1902) aktiv. Schon zwei Wochen nach der Baugenehmigung vom Amtshaus Tondern legte er mit zwei anderen ausgewiesenen Kennern der See vor Föhr den möglichen Standort der neuen Dampferbrücke fest. Direkt vor der Wyker Innenstadt wurde sie von Schiffbaumeister Peter Abraham Petersen (1813-1884) gebaut.

Bis nach 1900 legten Dampfer an der heutigen Mittelbrücke an. Ausgestattet mit einem Toilettenhäuschen, an dem der Rettungsring mit der Aufschrift „Hafen Wyk“ hing, und einem Schuppen für die Gepäckaufbewahrung, in dem man auch die Fahrkarte kaufte, kam es am Ende des 19. Jahrhunderts trotzdem zu zahlreichen Beschwerden. Die Passagiere der „Bäder-Linie“ von Hamburg und Cuxhaven über Helgoland, von wo man im Sommer 1906 mit dem Schnelldampfer „Seeadler“ nach Wyk fahren konnte, klagten über die unkomfortable Unterbringung ihres Gepäcks, bis sie am nächsten Morgen die Weiterreise nach Sylt antreten konnten. Volquardsen sorgte mit einem Antrag bei der Wyker Fleckensverwaltung daraufhin für einen größeren Schuppen.

Anreise mit Hindernissen

Nicht selten kam es vor, dass Fahrgäste wegen des niedrigen Wasserstands ausgebootet werden mussten, denn der Dampfer kam dann nicht bis an die Brücke heran. Damen mit großen Hüten, die gefährlich im Wind schaukelten, langen Kleidern und Sonnenschirmen ließen sich sozusagen wie ein Gepäckstück von der einen helfenden Männerhand zur nächsten weiterreichen, um dann schon etwas entlastet von den Zumutungen dieser Reise aufatmend in das kleine Ruderboot zu steigen, dass sie an den Wyker Strand brachte.

Oben bei der Dampferbrücke riefen die Wyker Jungs: „Wünschen Sie ein Logis?“ und schulterten auch gleich die Koffer, um Muttern neue Gäste zu bringen. Die Männer, die dort auf der Schifferbank saßen, hatten ein wachsames Auge auf das Geschehen. Nur wenig blieb „in‘e lütte Wyk“ verborgen. Und wenn man wie Bruno Preisler (1901-1987) harmlos die Mittelbrücke hinunterging, fühlte man es leise den Rücken hinunterkribbeln: „Dor löpt de nüe Rechtsanwalt.“ Nur wenig blieb den Männern auf der Schifferbank verborgen, und so manches wurde herzhaft kommentiert.

Das Geschehen immer im Blick

Auch mit den „Großen“ kam man gut zurecht. Ein alter Wyker erzählt in seinen Erinnerungen, der zur Sommerfrische auf Föhr weilende deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm (1831-1888), der spätere 99 Tage-Kaiser, habe sich gerne mit dem Schiffer Michel Koopmann (1816-1898) unterhalten und ihm eines Tages eine feine Zigarre angeboten. Der aber wusste, was sich gehörte und lehnte sie ab mit den Worten: „Danke, Herr Kronprinz, ich hab´ was ins Maul“ und schob zum Beweis zwischen seinen Zähnen ein großes, schwarzes Stück Kautabak durch.

Die Männer auf der Schifferbank trugen so typische Namen wie Lund, Jensen, Clausen, Paulsen, Sönksen, Hinrichsen, Hansen oder Jürgensen. Wie die „Seebären“ in unseren Vorstellungen sahen manche aus: wettergegerbte Gesichter, lange, dunkle Bärte. Sie trugen festes, wetterbeständiges Tuch und eine Schiffermütze gegen Sturm und Regen. Die alten Fahrensmänner, die hier nun saßen, hatten ein ungewöhnliches Schicksal: Sie starben in ihren Betten an Land.

Was hat die Mittelbrücke im Laufe der Zeit nicht alles gesehen und erlebt. Die dänische und preußische Herrschaft, neben ihr landende, von Tondern kommende Zeppeline mit einem Föhrer Kapitän, der noch schnell einen Brief an seine Frau aus dem Fenster reichte, Jahre später die legendäre DO-X, dann die „Gorch Fock“ unter Föhrer Kapitänen. Im Jahr 1906 feierte Wyk seine 200-jährige Selbstständigkeit als Flecken, wofür die Dampferbrücke festlich geschmückt wurde. Dampfer, Segelboote und kleine Ruderboote lagen an der Brücke im Wasser – bestaunt von Schaulustigen, die bei Sonnenschein und leichter Brise auf- und ab spazierten. Am Strand standen kleine Jungen in Matrosenanzügen und beobachteten den anlegenden Dampfer „Wyck-Föhr“. Mädchen mit großen weißen Schürzen und „Propellern“ im Haar schwenkten Fähnchen und gingen an der Hand ihres Kindermädchens hinaus auf die Anlegestelle. Damen in feiner weißer Sommergarderobe trugen ihren großen, ausladenden Hut, genannt „Wagenrad“, und schützten ihre Haut mit eleganten Sonnenschirmen, deren Knauf je nach Art und Farbe der Garderobe austauschbar war.

Jahre später eilte der Wyker Arzt Carl Häberlin (1870-1954) schnellen Schrittes vom Garten seines Hauses am Sandwall durch den Sand auf die Dampferbrücke zu und bestieg ein Motorboot. Auf Hallig Langeneß gab es einen Notfall. Ob nun schon durch eine telefonische Verbindung oder auf die traditionelle Art durch ein weißes Bettlaken, den „Schauer“, auf dem Hausdach benachrichtigt, Häberlin wusste, dass es eilte. Das wussten auch einige Jahrmarktsbesucher, die noch einen aber auch wirklich allerletzten Punsch tranken und dabei die Abfahrtszeit des Halligschiffes vom Hafen versäumten. Nur gut, dass Kapitän Peter „Maler“ sie an der Dampferbrücke noch schnell aufspringen ließ.

Flanieren in lauer Sommerluft

Noch lange in das 20. Jahrhundert hinein fuhren junge Dienstmädchen die Kinder ihrer Herrschaft aus, und der letzte Abenddampfer stach schwarze Dampfwolken ausstoßend laut tutend in See. Die Dämmerung senkte sich über Strand und Brücke, es wurde ruhig, die Möwen nahmen ihr Revier in Besitz. Später kamen die abendlichen Flaneure, genossen die Ruhe, die laue Sommerluft, manchmal auch die herben Winde von Osten, und blickten von der Mittelbrücke auf das im Schein seiner vielen Lichter liegende Wyk. Schon morgens um vier Uhr soll der Maler Paul Lehmann-Brauns (1885-1970) seine Staffelei an der Mittelbrücke aufgestellt haben und das unvergleichliche Licht der über der Nordsee aufgehenden Sonne für seine Arbeit genutzt haben.

Mag sein, dass es stimmt: Um diese Zeit sollen auch die einen oder anderen Abortkübel von der Brücke in die Nordsee geleert worden sein. Nichts Genaues weiß man nicht. Fest steht: Die Dampferbrücke und heutige Mittelbrücke ist bis heute einer der Mittelpunkte des Geschehens im Badeort Wyk. Das nicht nur wegen der an- und ablegenden Dampfer, des hier startenden Blumenkorsos mit Ruderbooten, der sommerlichen Burgenwettbewerbe und der „Lustboote“, die man für Fahrten zu den Halligen und Seehundsbänken mieten konnte, sondern auch wegen der sommerlichen Feuerwerke, der Kurmusik, der hübschen „Badenixen“ und schnittigen Motorboote, Surfer, geräumigen Strandzelte und praktischen Strandkörbe, Beachball-Turniere und der Sundowner mit einem Ausblick zum Schwärmen und Träumen.

Auch das erlebte die heutige Mittelbrücke: Die vielen Strand- und Badegäste, die im Laufe der Zeit immer weniger Fasern am Körper trugen. Sie klagten in den 1950er Jahren über den viel zu schmalen Strand, der zudem sehr steinig und bei jedem Hochwasser unbenutzbar war. 1962 wurde er aufgespült. Das aber zog ein neues Problem nach sich: Nun war ein Anlegen an der Mittelbrücke nicht mehr möglich, sie steckte sozusagen im Sand fest. 1966 wurde der ursprüngliche Brückenkopf weiter hinaus verlegt, sodass auch weiterhin Ausflugsboote wie die „La Paloma“ oder die „Rungholt“ der WDR dort anlegen konnten. Und wenn diese unterwegs waren „nach den Halligen“, sprangen unter den wachsamen Augen der DLRG die Frei- und Fahrtenschwimmer in die Nordsee.

Text und Fotos: Karin de la Roi-Frey