Wyker Klingelmänner: Ausrufer für Bekanntmachungen aller Art

Zu den kleinen, leisen, erst auf den zweiten Blick sichtbaren typischen Besonderheiten, die Wyk seinen Gästen bietet, gehört der Klingelmann. Aber was heißt klein und leise? Ein großer, schlanker Mann lief in den Sommermonaten durch die Wyker Straßen und brachte seine Glocke mit einem kräftigen Schwung noch weithin zu Gehör. Im Jahr 2009 hatte der im September 2023 verstorbene Wyker Klingelmann Knudt Kloborg für die Renaissance einer sehr alten Wyker Tradition gesorgt, von der nicht einmal bekannt ist, mit wem sie eigentlich begann.

Einige Namen von Klingelmännern sind überliefert, manche Wyker kennen noch aus der Erinnerung ein oder zwei Vorgänger von Kloborg, andere wurden erst im Laufe verschiedener Recherchen entdeckt. Zu ihnen gehört Hans Lund (1831-1920). Er wohnte mit seiner Frau in der Mühlenstraße 4, in dem heute seine Nachfahren leben und arbeiten („Klatts Gute Stuben“). Hans Lund gehörte wie sein Kollege Peter Rieckenberg (1827-1904) und andere Wyker Männer 1848 bis 1850 zu den Teilnehmern des schleswig-holsteinischen Freiheitskrieges. Auf einer von Tischlermeister M. J. Levsen (1875-1962) am 18. Juli 1914 fertiggestellten Gedenktafel in der St. Nicolai-Kirche sind sie verzeichnet.

Hans Lund kannten die Kurgäste als Führer eines Lustkutters, mit dem er seine Passagiere auf Lusttouren zu den Halligen, nach Amrum oder zu den Seehundsbänken brachte. Auch als Klingelmann, der Veranstaltungen und Neuigkeiten ausrief, trafen sie ihn in den Wyker Straßen. „Dor keem de ol Utroper Hans Lund mit sien Glock vörbi: ‚Dor is en Koffer affhanden kam an‘e Damperbrüch!‘“, der sich dank des Klingelmanns bald wieder fand, heißt es in den Erinnerungen eines Wykers. Und ein anderer weiß von „Hans Lund in Wyk, der alte Herr mit der Glocke und hellen Stimme, den jeder hier kennt“.

So gut wie keine Spuren hat Johann Friedrich Ohlsen hinterlassen. Eine findet sich 1889 im Protokollbuch der Wyker Beerdigungs- oder Sterbekasse: „An Ohlsen für Ausrufen … 0,40 Mark.“ Belegt ist, dass Ohlsen 1886 ein Grundstück in Wyk besaß und dort auch wohnte. Ohlsen könnte Hans Lund und Peter Rieckenberg, einen der bekanntesten Wyker Klingelmänner, hin und wieder entlastet haben.

Das Haus von Peter Rieckenberg und seiner Familie in der Mittelstraße 17 brannte 1869 beim zweiten großen Wyker Stadtbrand ab. Er baute es an der danach neu angelegten Mittelstraße wieder auf. Bei Einheimischen und Badegästen, „die ihn besonders beim Ausrufen der Wyker Bekanntmachungen kennen lernten“ erfreute sich Rieckenberg, der von Beruf Polizeidiener war, „allgemeiner Sympathie“, heißt es in seinem Nachruf von 1904. Der freundlich-interessierten Frage oder gut gemeinten Aufforderung zu einem kleinen Klönschnack seitens des deutschen Kronprinzen und späteren 99-Tage-Kaisers Friedrich III. (1831-1888), der mit seiner Familie zur Sommerfrische auf Föhr weilte, kam Rieckenberg allerdings nur mürrisch nach. Auf die königliche Frage „Schollen im Hafen?“ brummt Rieckenberg zurück: „Nee, Wittkohl.“

Als Polizeidiener sorgte Rieckenberg dafür, dass sich die Wyker Jungs im Königsgarten ordentlich benahmen und die Ankunft eines Dampfers mit Badegästen an der Landungsbrücke (Mittelbrücke) nicht als Neugierige oder Kofferträger behinderten. „Jem verdammte Jungs!“ rief er so manches Mal, wenn sie sich wieder unerlaubt in ein Tanzvergnügen geschlichen hatten oder die Sitzbänke vor dem Kurkonzert besetzten.

Unvergessen und auf unzähligen Fotos von Gästen und Einheimischen verewigt ist bis heute der Klingelmann Jens Jensen (1856-1944). Seine markante Gestalt mit dem später langen, weißen Bart gehörte über Jahrzehnte zum Wyker Stadtbild. Auf der Insel, die dem gebürtigen Pellwormer zur neuen Heimat geworden war, nannte man ihn Jens „Moos“, weil er mit Seemoos, das als vielseitiges Dekorationsmaterial für Türkränze, Jubiläumsbögen und auch auf den Hüten der Damen Verwendung fand, viel Geld verdiente. Er kannte die besten Fanggründe für Seemoos im nordfriesischen Wattenmeer. Eine Nachfahrin des Klingelmannes Hans Lund erzählte, dass sie als junges Mädchen immer wieder Zettel mit Notizen zu Jens „Moos“ in die Friedrichstraße brachte, mit deren Hilfe er die Ausflugsfahrten des väterlichen Boots „Friesland“ ausklingelte.

Dabei beschränkte sich seine Tour keineswegs wie beim späteren Klingelmann Knudt Kloborg auf das Wyker Stadtgebiet. Die große Runde des Klingelmanns ging in diesen Zeiten der noch nicht uneingeschränkten Kommunikation oft bis zum Südstrand und auch in Richtung Boldixum. Die Zeitungen erschienen zeitweise nicht jeden Tag, über ein Telefon verfügten nur wenige. Und so holten die Klingelmänner mit ihrer Klingel die Bewohner aus den Häusern, um ihnen das Neueste zur Kenntnis zu geben. Gut, wenn man, wie Carl Carstens, ein Fahrrad dabeihatte. Knudt Kloborg schob sein Fahrrad durch Wyk, auf dessen vorderer Ladefläche so manche interessante Broschüre und seine Visitenkarte in Form einer Postkarte lagen, das Spendenschiff zur Rettung Schiffbrüchiger stand und sich die eine oder andere kleine Überraschung für die kleinen „Fans“ des Klingelmanns befanden, der auch mehrfach bei nationalen Klingelmann-Treffen und im Fernsehen zu Gast war.

„Als Ausrufer von Bekanntmachungen aller Art war er als der Klingelmann bei Jung und Alt, bei Kurgästen und Einheimischen so bekannt und beliebt, dass mancher es gar nicht begreifen konnte, als er wegen seines Alters mit dieser Beschäftigung aufhören musste“, heißt es im Nachruf für den Schuldiener und Klingelmann Marinius Jörgensen, zu dessen Vertretern in den letzten Jahren Andreas Hanberg (1874-1967) gehörte. Seine Enkelin erinnert sich noch genau, dass sich die Glocke dann bei ihnen im Haus befand.

Wie die Aufzeichnungen für Jens „Moos“/Jensen schon lange nicht mehr existieren, so ging auch das Auftragsbuch des Klingelmannes Carl Carstens (1881-1979), der dieses Amt über lange Zeit versah, verloren. Seine manchmal geradezu legendären Ausrufe aber haben manche noch im Ohr: „Heute … frische Schollen … am Hafen!“ Diese Gegebenheiten bei einem kleinen Klönschnack austauschend, brachte den späteren Wyker Klingelmann Knudt Kloborg wohl auf den Gedanken, dass seine Ausrufe ab 2009 ja auch schon wieder ein Stück Wyker Geschichte bedeuteten. Und so kam die Idee zustande, zumindest einige seiner Aufträge aufzuheben. Gleich im ersten „Amtsjahr“ rief Kloborg aus: „Klatt – Ihr Fischpartner auf Föhr, denn Gerdi Klatt macht sie alle satt!“ Und das Laternelaufen am 30. Oktober 2009, das der Supermarkt „Sky“ zum fünften Mal ausrichtete, wurde ebenso angekündigt, wie der Bücherflohmarkt des Lions-Clubs, das Inselsingen mit vier Chören, Rundflüge und Fundsachenversteigerung. Ein in der Großen Straße entlaufenes kleines Mädchen wurde bei der alten Post am Sandwall wohlbehalten wiedergefunden – dank der Hilfe des Klingelmannes.

Die unverzichtbare Gehilfin des Klingelmannes ist seine Glocke. Erst vor Kurzem tauchte eine aus einem Wyker Haushalt stammende Klingel, die wohl einst einen Klingelmann begleitete, wieder auf. Heute ist es aber nicht mehr nachvollziehbar, welcher Klingelmann wann welche Glocke benutzte und wo diese geblieben sind. Anzunehmen ist, dass Carl Carstens die Glocke seiner Vorgänger Marinius Jörgensen (1873-1959), Jens „Moos“/Jensen und Andreas Hanberg (1874-1967) benutzte. Am Ende seiner „Amtszeit“ brachte er sie nach Mitteilung seiner Familie zur Stadt Wyk. Nach einigen Jahren ohne Wyker Klingelmann hieß es dann 1979: „Wyk will wieder einen neuen Klingelmann.“ Und der „Insel-Bote“ berichtete, dass Heinz Wittig aus Braufels „die nun schon antiquarische Klingel seiner Vorgänger, die sorgsam von der Wyker Kurvewaltung aufbewahrt und gepflegt wurde und wird“, in seine Verantwortung bekam – „einer der liebenswertesten Gegenstände Wyker Kurgeschichte.“ Der aber verschwand nach der nicht sehr langen Amtstätigkeit von Wittig auf Nimmerwiedersehen.

Es folgen Jahrzehnte ohne Klingelmann, bis Knudt Kloborg diese alte Tradition 2009 mit dem Kauf einer Glocke bei der Flensburger Rum-Regatta wieder aufleben ließ. Nicht lange danach erhielt Kloborg, wie er einst erzählte, von einem Wyker, der nicht genannt werden will, eine große Glocke, die 35 Jahre bei ihm im Keller stand. Kloborg damals: „Wenn der Spender gestorben ist und ich dreimal an seinem Grab geklingelt habe, gehört sie mir.“ Könnte das die Original-Glocke sein, die die Insel vielleicht gar nicht mit Heinz Wittig verlassen hat?

Text und Fotos: Karin de la Roi-Frey