„Was, da ganz drauße wollt ihr wohnen?“
„Was, da ganz draußen wollt ihr wohnen?“ bekamen manche Wyker zu hören, die sich am Rugstieg ein Grundstück kauften. 1968 wurde dieses neue Wyker Baugebiet erschlossen, das schon bald gar nicht mehr „da ganz draußen“ lag. 1970 stand an der Strandstraße bereits das Hotel „Rugstieg“, am 1. Juni 1970 fand der erste Spatenstich für den Bau des Kindergartens der Arbeiterwohlfahrt statt, am 24. Juli war Richtfest. Später siedelten sich das Möbelhaus Schulz und die Bäckerei Hansen an, der Wyker Tennisplatz (heute: Park an der Mühle) erhielt mehrere Plätze und eine Halle „da ganz draußen“, ebenso entstand ein Seniorenheim, eine neue katholische Kirche und sozialer Wohnungsbau. Mit der Aussicht auf gute Einnahmen durch vermietete Gästezimmer wagten nun auch viele Familien den Hausbau. Der Plan, durch den Rugstieg die Ortsteile Boldixum, Südstrand und Wyk enger aneinander zu binden, ging auf.
„Raus nach Boldixum“ hieß es einst, als das Dorf noch nicht zu Wyk gehörte, das sich im Gegensatz zu Boldixum nur über ein sehr kleines Terrain erstreckte. Vom Hafen reichte es in Richtung Süden bis zum heutigen Rebbelstieg, dann ging es die Badestraße wieder hinunter bis zum „Haus der Landwirte“. Vor hundert Jahren und auch noch eine ganze Weile danach stand vor dessen südlichem Eingang zur ehemaligen Reeperbahn hin (heute: Badestraße) ein Grenzstein. Er markierte das westliche Ende von Wyk und den östlichen Beginn von Boldixum. Schaut man heute von dem noch immer vorhandenen Eingang die Badestraße hinauf, ist rechts auf der Boldixumer Seite ein Gehsteig mit Bäumen zu erkennen, während sich auf der linken Seite nur ein schmaler, provisorischer Weg für Fußgänger befindet und auch keine Bäume stehen. Unmittelbar nach der letzten, westlichen Hauswand auf der Wyker Seite begann nämlich einst das Nachbardorf Boldixum. Und die wollten ganz bestimmt kein Trottoir für die Wyker bauen.
Diese Ortsgrenze machte allerdings keinen Bogen um das große Gasthaus, sie zog sich vielmehr mitten durch dessen Gaststube hindurch. Diese spezielle Inselsituation hatte Folgen. Und das war besonders denen recht, die beim abendlichen Kartenspiel und Punschtrinken kein Ende finden konnten. Nachdem sie Stunde um Stunde zusammengesessen und „Karten gekloppt“ hatten, erschien, wie jeden Abend, zur festgesetzten Zeit der Wyker Nachtwächter und mahnte die nächtliche Sperrstunde an. Für diejenigen, die noch nicht nach Hause gehen wollten war das gar kein Problem. Sie schoben ihre Karten und Punschtassen auf die andere, Boldixumer Seite des Tisches, durch den quer die Ortsgrenze lief, und setzten den Abend vergnügt fort.
Zu Boldixum gehörte zu dieser Zeit das große Gebiet südwestlich des Rebbelstiegs bis hinaus zum heutigen Flugplatz, dann über die Boldixumer Kirche St. Nicolai hinunter zur Marsch bis zur Grenze, die aus dem „Haus der Landwirte“ hinauskommend das Wyker Gebiet kennzeichnete. Weite, baumlose Heideflächen kennzeichneten zu dieser Zeit den zu Boldixum gehörenden Südstrand, der nur ein unerschlossenes, unbebautes, wild grünendes Land mit Sand- und Matschwegen war. Von der so genannten „Roten Heide“, einer kleinen Anhöhe, konnte man bei guter Sicht weit über die Insel und das Meer sehen. Bis auf ein paar gelegentliche Ausflügler aber wusste niemand etwas mit diesem sandigen Geestboden, der Wind und Wetter ausgesetzt war, anzufangen. Bis auf zwei Männer …
Wer sich um 1900 in Richtung Südstrand aufmachte, sah ab dem Rebbelstieg nur noch Gegend vor sich. Aber es lockte ein Ausflugsziel: Die „Mausefalle“ des Lehrers Hans Rambach-Peters (1836-1924), der auf dem Gelände westlich des heutigen „Upstalsboom“ windgeschützte Lauben hinter einem halbkreisförmigen Wall aufgestellt und eine parkartige Anlage mit vielen verschlungenen Wegen (Mausefalle) angelegt hatte. Gäste wurden mit frischen Erdbeeren bewirtet, die Rambach-Peters auf seinen Feldern in Boldixum anpflanzte, wo er das „Erdbeerparadies“ gründete. Und die Aussicht nach Amrum gab es zusammen mit frischem Wind „draufzu“.
Der andere Südstrand-Pionier hieß Karl Gmelin (1863-1941) und kam aus Süddeutschland nach Föhr, um 1898 am windumtosten und unwegsamen Südstrand Land von der Größe des Ortes Wyk für einen halben Pfennig pro Quadratmeter zu kaufen. Aus dem Nichts, im wahrsten Sinne des Wortes, baute er in der frischen Nordseeluft und an einer der sonnigsten Ecken der Insel sein bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus berühmtes „Nordseesanatorium Dr. med. Gmelin“ auf. Als „de niege Waterdokter“ sorgte er für einiges Kopfschütteln. Die Frauen gingen in Reformkleidern spazieren, unter denen sie eindeutig kein Korsett trugen! Auch sah man einige Gäste des Sanatoriums doch tatsächlich barfuß in Sandalen laufen! Aber es kam noch schlimmer: Gmelin, zu Pferde auch als Landarzt tätig, versuchte auch die Einheimischen mit natürlichen Mitteln wie Diät, Luft und Wasser zu behandeln.
Zu dieser Zeit entstand Haus für Haus die „Villenkolonie Südstrand“. Der Midlumer Gastwirt Jens Ludwig Jensen (1831-1924, heute: „Haus Jensen“) und andere Wagemutige wie der Wyker Schlachter August Nickelsen (1862-1934, heute: „Graf Luckner“) kauften Land „da hinten“ am Südstrand, wo so gut wie keine Landwirtschaft möglich war. Dazu kamen Wege, die diesen Namen nicht verdienten, und die Promenade gab es noch nicht. Außerdem lagen alle notwendigen Geschäfte und Einrichtungen für die Sommerfrischler in weiter Ferne, nämlich „unten“ in Wyk. Allen Unkenrufen wie „Welche Badegäste wollen denn da wohnen?“ oder „Dat geiht nich gut, de hem sick verkalkuliert!“ zum Trotz erwies sich die „Villenkolonie Südstrand“ als ein großer Erfolg, der bis heute anhält. Von Wyk führte bald über den Rebbelstieg hinaus der Weg zu den Bädern, getrennt für Damen und Herren, durch Anpflanzungen als Windschutz (heute: Stockmannsweg). Der Lembcke-Hain wurde zum Grüngürtel, der entlang der Reeperbahn (heute: Badestraße) noch heute bis hinunter nach Wyk führt und Erholungssuchenden einen angenehmen Spazierweg bietet.
Faktisch gehörte der Südstrand mit seinen Häusern, dem Sanatorium, den Bädern für Damen und Herren also schon nach Wyk. Juristisch aber keineswegs. Bis es 1924 zur Eingemeindung des viel älteren und größeren Dorfes Boldixum in das kleine Wyk kam, das sich seit 1910 als Stadt bezeichnen durfte. Man ging von dort zwar seit Jahrhunderten zum Gottesdienst in die St. Nicolai-Kirche, wurde auf dem dortigen Friedhof beerdigt, aber Wyk blieb Wyk und Boldixum blieb Boldixum. Und nun das! Boldixum ein Anhängsel von Wyk? Niemals, oder? Wie konnte das bewerkstelligt werden? Man versprach dem Boldixumer Bürgermeister, nach erfolgter Eingemeindung, das Amt des nächsten Bürgermeisters von nun "Groß-Wyk". Und siehe da, es funktionierte!
Zwanzig Jahre und ein gefühltes Zeitalter später fanden auf der ehemaligen Boldixumer Gemarkung „Fehrstieg“ viele Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkriegs eine neue Heimat. Aber die Stadt Wyk wuchs nicht nur noch mal ein Stückchen in Richtung Westen, mit dem Hafenneubau in den 1960er-Jahren entstand im Norden Wyks auch Fläche für das heute nicht mehr wegzudenkende Gewerbegebiet. 2020 erhitzte ein Kreisverkehr die Inselgemüter. Nicht nur, dass es der erste auf der Insel war, er lag auch einsam mitten in der Marsch, ohne dass rechts und links etwas nach einer Art von Straße aussah. „Oha, wenn das man gut geht!“, unkte so mancher. Aber das hatten die Südstrand-Pioniere auch schon zu hören bekommen.
Text und Fotos: Karin de la Roi-Frey