Große Straße: Eine wechselvolle Geschichte
Fröhliche Lieder aus beschwipsten Kehlen in frühen Morgenstunden, die dumpfe Monotonie von Druckerwalzen, quietschende Zahnbohrer, brennende Häuser, Sturmfluten zu Jahrmarkt, Streit um ihren Namen, frohes Glockengeläut für den letzten Heimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg und Reisauktionen – was hat die Große Straße in Wyk nicht alles erlebt.
Zu den menschlich bemerkenswerten Begegnungen gehörten auch die von „Hannes Rollooch“, dem „Langen Egon“ und „Augge Mayer“. Pünktlich zur Mittagspause verließen sie das Rathaus unten am Ende der Großen Straße: Johannes Woebs, der auf jeden Antrag erst einmal mit großen, rollenden Augen reagierte, während er seinen Kopf bedenklich hin und herwiegte, und Egon Knudtsen, dessen Ökelname (Neckname) sich aus seiner Gestalt ergab. Kaum, dass Schlachter „Augge Mayer“, der eigentlich August Andresen hieß und für die Wyker stets den Mädchennamen seiner Mutter trug, sie sah, riss er die Ladentür auf und rief über die Straße: „Beamtenpack, Beamtenpack!“ Und als hätten sie nur darauf gewartet, grüßten der „lange Egon“ und „Hannes Rolloch“ vergnügt zurück: „Peerschlachter, Peerschlachter!“
Stadtbrand zerstört Spuren des alten Wyk
Menschen und Ereignisse ohne Zahl haben sich in die Große Straße eingeschrieben. Alte Wyker Ortspläne zeigen, dass sie nicht lange nach den ersten Siedlern in der kleinen östlichen Inselbucht im Jahr 1634 entstanden sein kann. Über dreihundert Jahre später stieß man bei Bauarbeiten im Bereich der unteren Großen Straße in zweieinhalb Meter Tiefe auf die Reste eines gepflasterten Hofs. Sogar eine gemauerte Wand mit einem Fensterbogen war zu erkennen. Diese frühen Spuren des alten Wyk wurden nach dem großen Stadtbrand von 1857 mit den Resten der vielen, vielen abgebrannten Häuser zugeschüttet.
Auf diese Weise wurde die Straße um einiges angehoben, was sie aber auch in den folgenden Zeiten nicht vor Überflutungen geschützt hat. Vom Hafen und vom Strand hatte die Nordsee freien Zugang zur Innenstadt, bis im Rahmen des Hafenneubaus in den 1960er Jahren eine Stöpe zum Schutz gebaut wurde. Noch heute zeugen die erhöhten Erdgeschosse mit ihren Treppenaufgängen davon, wie man sich in der Großen Straße vor dem eindringenden Wasser zu schützen versuchte. In die halbe Straße hinauf bis zum Glockenturm soll das Wasser immer wieder gelangt sein, so auch an einem Jahrmarktswochenende in den 1930er Jahren.
Erstes Inselhotel in der Großen Straße 4
1721, als sich ein Propst aus Tondern für die jährliche Visitation der Gemeinden auf den Weg zur „Insull“ Föhr machte, sah die Große Straße also noch anders aus. Nach beschwerlicher Reise kam er „an Landt bei der Wieck“ und nahm Logis bei Johannes Feddersen (1646-1725), der „zur Bequemlichkeit der ... Obrigkeitlichen und andern vornehmen Personen“ ein Haus eingerichtet hatte, „weil daselbst sonst gar keine Gelegenheit war zu solcher Bewirthung“. Johannes Feddersen betrieb in der heutigen Großen Straße 4 (Restaurant „Alt Wyk“) das erste Inselhotel.
Zum Verweilen lud über Jahrzehnte auch die 1973 abgerissen Wyker „Centralhalle“ (Nr. 19) ein, in der Jahrmarktsbälle, Tagungen des Fleckenskollegiums, Vereinsfeiern und ausgedehnte Punschabende stattfanden. 1931 wurde dort der erste deutschsprachigen Tonfilm „Die Königsloge“ gezeigt, was dem Inhaber Matthias Kröger den Spitznamen „Tiesche Tonfilm“ eintrug.
Zum Nachspülen in den Altdeutschen Keller
Auf eine möglichst geringe Aufenthaltsdauer hoffte dagegen jeder Besucher der Großen Straße 8. Dort hatte „Kuus“, der Zahnarzt Julius Früdden seine Praxis, in der er sich um schmerzende Backenzähne (Kuus) kümmerte. Nach überstandener Prozedur mag so mancher zum Nachspülen in den fast gegenüber, an der Ecke zum Sandwall liegenden „Altdeutschen Keller“ gegangen sein. Am dortigen Stammfass trafen sich Bierverleger, Schlachter, Kaufleute, Zollinspektoren, Lehrer, Taxifahrer und Geschäftsleute wie Gustav Twardziok (1913-1997). Als „Eisen-Gustav“ ging er in die Wyker Geschichte ein und betrieb sein erstes Geschäft gleich nebenan in der unteren Großen Straße.
Wyker Wahrzeichen mit vielen Aufgaben
Am oberen Ende wurde 1701 der erste Wyker Glockenturm gebaut. Das Wyker Wahrzeichen hatte und hat viele Aufgaben: rechtzeitig zum Kirchgang nach Boldixum rufen, Warnung bei Feuer und Sturmflut, Hinausläuten der Verstorbenen. Dass das Uhrwerk auch in salzig-windiger Luft funktionierte, dafür hatte lange Zeit jeden Sonntag der „Klockenpuster“, ein Wyker Uhrmacher, zu sorgen. Das Läuten der Glocken, wie bei der verordneten „Freude“ über das misslungene Attentat auf Adolf Hitler, übernahmen lange Zeit Wyker oder Wykerinnen, die in der Nähe des Glockenturms wohnten. So hörte man auch sein wirklich freudiges Geläut, das Otto Karbe (1899-1975), der im Oktober 1955 als letzter Kriegsheimkehrer nach Hause auf seine Heimatinsel kam, durch die Wyker Straßen nach Hause begleitete.
Lange Zeit vorher hatte man so manches Mal einen stets dunkel und förmlich gekleideten Herrn am Glockenturm auf den Weg zum Amtsgericht voreilen sehen. Es war der Lloyds-Agent Levi Heymann (1813-1892), der die Interessen der Londoner Schiffsversicherer zu vertreten hatte. Und so konnte es auch durchaus vorkommen, dass in dem kleinen Wyk auf einer der nördlichsten Inseln Deutschlands so etwas Exotisches wie Reis aus einer vor Amrum über Bord gegangenen Schiffsladung verauktioniert wurde. Nur wenige Meter die Große Straße hinunter betrieb Heymann im alten Haus Nr. 35 seine diversen Geschäfte. So besaß die Familie Kohlengruben in England, aus denen so mancher Inselofen versorgt wurde, auch berühmte Wyker Schiffe wie die „Amilhujo“ oder „Persian“ gehörten dem Konsul und Reeder Heymann.
Wieder ein Stückchen die Große Straße hinunter traf man über viele Jahre den letzten Nachfahren der Familie, Heinrich Heymann (1930-2019), vor der Redaktion des „Insel-Boten“ (Nr. 16), wo er sich eine Tageszeitung geholt hatte und die Gelegenheit für so manchen Klönschnack nutzte. Im Jahr 2012 hielt die Druckerei Asmussen ihre Druckerwalzen für immer an, auf denen über Jahrzehnte auch der „Insel-Bote“ gedruckt worden war. Aus dem westlichen Haus nebenan sah man einst oft eine Frau aus dem Haus treten, der beide Hände fehlten. Adelheid Hungerland (1915-2007) hatte sie ihren zwei Kindern während eines Fliegerangriffs im Zweiten Weltkrieg auf einen WDR-Dampfer vor Wyk schützend auf den Kopf gelegt und so deren Leben gerettet.
Um diese Zeit mag es gewesen sein, dass nach Jahrzehnten zurückgekehrte Auswanderer sich wunderten, dass in der Großen Straße ihrer Kindheit keine Enten und Hühner mehr herumliefen und alles gepflastert war. Ja, Wyk war moderner geworden. Dieser neuen Zeit sollten auch zwei Linden vor dem Haus Christiansen geopfert werden. Die anrückenden Stadtarbeiter hatten allerdings nicht mit Caroline/Linchen Christiansen (1889-1959) gerechnet, die mit dem Beil in der Hand ihre Linden verteidigte, die dann noch eine ganze Reihe von Jahren vor dem Haus standen.
Das Haus Christiansen gegenüber dem Glockenturm sorgte mit seiner ganz besonderen Treppe schon immer für Aufsehen und viele Erinnerungsfotos. Zu heftigen Diskussionen kam es in den 1980er Jahren. Die Benennung der Großen Straße nach dem Wyker Friedrich Christiansen (1879-1972), der nach dem Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden als Kriegsverbrecher verurteilt worden war, wollten nicht mehr alle hinnehmen, bis sie schließlich ihren alten Namen wieder zurückerhielt.
Schon damals sorgte „de dor nümodsche Kram“ bei manchen für Verdruss
Zu dieser Zeit fuhren schon keine Autos mehr in der Großen Straße. Unter Bürgermeister Peter Schlotfeldt war die Wyker Innenstadt in den 1970er Jahren zur Fußgängerzone geworden. „De dor nümodsche Kram“ sorgten bei manchen für Verdruss und Ärger, nicht zuletzt für Befürchtungen bei den Geschäftsleuten. Beim Glockenturm begann man damit, die Straßen aufzureißen, und arbeitete sich Schritt für Schritt über die Mittelstraße weiter vor in Richtung Sandwall, der wie die Große Straße zur Fußgängerzone wurde. Ende 1979 konnte Bürgermeister Schlotfeld, nun im Hinblick auf den neuen Straßenbelag „Platten-Peter“ genannt, das fertige Fußgängersystem in der Innenstadt präsentieren und war sich sicher, Wyk für die Kurgäste noch angenehmer und attraktiver gestaltet zu haben.
An der Badestraße endet bis heute die Fußgängerzone. Dort steht noch immer das „Haus der Landwirte“, andere Häuser in der Großen Straße wie das „Colosseum“, in dem über Jahrzehnte zahllose Veranstaltungen wie der „Schweineball“, Kinderfasching oder Schulfeste stattfanden, gibt es nicht mehr. Auch das dazwischenstehende „Kaufhaus Bohde“, aus dem so mancher Brausebonbon und Lolli von Kinderhand hinausgetragen wurde, existiert nur noch in der Erinnerung. So geht es auch der ehemaligen großen Apotheke (Nr. 20) und dem Geschäft von Lucie „Grün“ und Broder „Mehl“ in der Großen Straße 28, die eigentlich Hinrichsen hießen, aber nach ihrer Ware, die sie anboten, von den Wykern umbenannt worden waren.
Solche so genannten Ökelnamen erhielten nach ihren Eigenschaften, Besitztümern oder körperlichen Merkmalen auch „Hein Schwanger“, Dora „Plätt“, „Diamanten-Liesel“, „Hein Impotent“ und „Streichelmeier“, aber das ist eine andere, ganz spezielle Wyker Geschichte.
Text: Karin de la Roi-Frey